"Von Pechmarie zu Goldmagie" und "Das Eismärchen".
Ich habe diesen Moment am Samstag miterlebt - und davon muss ich euch unbedingt erzählen.
Ich beginne ... beginne ... vor ungefähr 46 Jahren.
Da stand klein Fränzi Sternenzauber zum ersten Mal auf dem Eis. Mit Schlittschuhen an den Füssen. So ähnlich wie eine kleine Hummel auf Kufen. Eislaufen war mein ganz grosses Hobby! Nix hat mir mehr Spass gemacht, als Kringel auf das gefrorene Wasser zu zwirbeln, Pirouetten zu machen, hier ein Sprung und da eine - für Hummelverhältnisse - gewagte Figur. Jedenfalls hatte ich Riesenfreude daran!
Bewundert habe ich am Fernsehen die Grazien, welche schier schwebend und sich im Applaus der Menge badend über das Eis bewegten und am Ende des Tages so toll glitzernde Dinger an einem farbigen Bande um den Hals gehängt bekamen.
Das wollte ich auch!
Meine Eltern machten diesen kühnen Träumen aber ein rasches Ende - ich sollte Tennisstar werden. Und wenn nicht das, dann halt wenigstens ein Ass in Handball oder Leichtathletik. Sagte damals mein Vater. Logisch ... er war lange Jahre Trainer der Schweizer Handball-Nationalmannschaft und später Trainer berühmter Leichtathleten - leitender Trainer der Mehrkämpfer in München an der Olympiade.
Und ich - ich "nur" Hüpfdrossel auf dem kalten Eis.
"Aus dem Mädchen wird nie was!" statuierte mein Vater, als sich mein Talent beim Weitsprung als etwa vergleichbar mit einem nassen Sandsack erwies. Einem sehr nassen Sandsack.
Auf der Aschenbahn zeigte ich mich eher als eine getunte Schnecke GTI denn eine kommende Anwärterin auf den Schweizermeistertitel im Sprint. Vom Hochsprung wollen wir jetzt mal gaaaar nicht reden. Da schien der hüpfende Sandsack von der Weitsprunganlage noch zusätzlich mit Bleigewichten beschwert.
Mit anderen Worten: ich hatte voll gelost.
Vater war gar nicht stolz.
Mit dem Tennis hat es dann einigermassen hingehauen - bis genau zu dem Zeitpunkt, als ich Hugo kennenlernte. Hugo war meine erste grosse Liebe und lenkte mich völlig davon ab, in die Fussstapfen der Martina Navratilova zu treten. Und somit war die Tenniswelt um eine Attraktion ärmer, ich dafür um Hugo reicher.
Und meine Eltern völlig desillusioniert.
Somit hatte sich meine sportliche Karriere im Sande verlaufen, um nicht zu sagen vergraben - ich werde auf immer und ewig ein No-Name-Produkt bleiben. Und mein Medaillenschrank gähnend leer. Damit kann ich leben. Gut.
Vorgestern habe ich mir dann am Nachmittag zwischen Ordner entrümpeln und mit Sohn Nr. 1 den endlich auseinander gebauten Schrank nach unten tragen helfen, die Europameisterschaft im Eiskunstlauf angesehen. Eigentlich auch nur aus dem Grunde, weil eine Freundin mich anrief, sie sei in Bern im Eisstadion, würde neben der Bank der Juroren sitzen und ob man sie eventuell am TV winken sehen würde? Es sei die Abschiedsvorstellung von unserem ewigen Schweizer Pechvogel, der Sarah Meier. Immer dabei, doch nie der grosse Erfolg. Im Training top, am Wettkampftag flop. Dauernd verletzt ... eben das personifizierte Pechvögelchen.
Meine Freundin sah ich übrigens an TV nicht, dafür die Läuferinnen. Eine um die andere patzerte, flog vorne auf die Nase und hinten auf den Po.
Dann kam Sarah. Kurz vor Beginn der EM gerade eben noch nominiert, gerade eben noch von total flügellahm zu halbwegs flugtauglich genesen. Dann kam also sie. Sarah.
Ihr letzter Auftritt. Ihr grosser Auftritt. Vor Berner Publikum ... und dieses Publikum trug sie auf Händen. Und aufs Eis.
Sarah setzte Fuss vor Fuss. Sprang hoch, sprang weit, sprang sicher. Zwirbelte in der Luft, zauberte auf dem Eis und lächelte dabei.
Ich hielt inne in meinem Tun, ich war im Banne dieser paar Minuten Eiskunstlauf. Ich hatte Gänsehaut pur und jedes Härchen stand zu Berge. Was ich sah, das hatte ich noch nie gesehen! Der Kommentatorin, den Zuschauern, den Mitkonkurrentinnen - allen blieb der Ton weg. Sarah Meier lief eine Kür, wie sie noch nie gelaufen wurde. Traumwandlerisch sicher. Und dieser Ausdruck ... stark, einfach nur stark. In jeder Hinsicht!
Die letzten Takte der Musik verebbten und die Welt stand einfach still in diesem Augenblick. Tosender Applaus, tobende Menge, ungläubiges Staunen. Ist so was möglich?
Noch nie in meinem Leben habe ich beim Eiskunstlauf geheult - wie käme ich auch dazu? Aber in diesem Augenblick liefen mir die Tränen nur so runter, ich atmete nur noch stossweise und heulte zuletzt wie ein waidwunder Wolf. Das ging derart unter die Haut. Ich kannte mich selber nicht mehr.
Dann diese Spannung bis zur Punktevergabe - ein Wunder lag in der Luft. War greifbar. Diese Aufregung! Und dann die Erlösung:
Sarah Meier ist Europameisterin!
Ich schlucke auch jetzt schon wieder, wenn ich zurück denke.
Und schöner als es heute Morgen in der Zeitung stand, hätte ich es weiss Gott auch nicht sagen können - es war wirklich:
DIE GNADE DES PERFEKTEN MOMENTES