Grundsätzlich würde ich meinen, dass ich Menschen gut, treffend, richtig einschätzen kann. Dass ich ihr Wesen schnell erfasse und ihm / ihr entsprechend begegne.
Ich bin eine Menschenfreundin, ich mag Menschen.
So ergaben und ergeben sich in meinem Leben immer wieder nicht wegzudenkende Bekanntschaften, Freundschaften. Sie sind mir Lebensnahrung, oft der Grund guter Gefühle und so manchem Lachen.
Aber ab und zu greif ich - ins Klo. Bin mit meiner Einschätzung sowas von daneben ... weil meine Menschenkenntnis vom "Jüüüüü"-Faktor geblendet wird. Dieser besagte "Jüüüüü"-Faktor hat nichts mit dem Erscheinungsbilde zu tun. Menschen mit irgendeinem Handycap - welchem auch immer - lösen bei mir immer den Beschützeralarm aus. Ein Instinkt in mir, der (zu) gut ausgebildet ist.
Solche Menschen haben noch ein bisschen mehr Vorschuss als Andere.
Mein Parade-Beispiel ist Kunibert. Ich nenne ihn jetzt einfach Kunibert - der geneigte Leser weiss, dass ich niemals den richtigen Namen benutzen würde.
Also zu Kunibert.....
.....seit bald 5 Jahren pendle ich ja zwischen A und B. Fahre am Morgen zur Arbeit und am Abend wieder nach Hause. Seit dem ersten Tag begegnete ich auf dem Perron diesem Mann: Mitte Dreissig, angenehme Erscheinung, ein Neutrum. Er steigt aus dem Zug, in den ich anschliessend einsteige.
Das erste Jahr haben wir es beim gegenseitigen Lächeln belassen. Im zweiten Jahr war er dann schon viel wagemutiger und hat zu grüssen angefangen. Und so bestand meine erste morgendliche Konversation aus "guete Morge und de e schöne Tag". Freitag konnte es sogar zu einem "guete Morge und de e schöne Tag, es guets Wiikänd" ausufern.
Damit sollte es die nächsten Jahre auch getan sein.
In Jahre 3 "unserer Beziehung" war es dann soweit, dass er mir - mit hochrotem Kopf, leicht stotternd, sich windend, zwischen Tür und Angel erklärte ... "bin die nächsten 3 Wochen nicht da. Ferien". Sagte es, war ob seiner Spontaneität wohl selber überrascht und ging raschen Schrittes von dannen.
Ok.
Nach 3 Wochen wieder das gewohnte Bild: Zug fährt ein, ich steh auf dem Perron, er steigt aus ..."guete Morge u de e schöne Tag". Seine Schritte waren zögerlicher als sonst, ich hatte das Gefühl, er möchte was sagen, traut sich aber nicht. Und irgendwie war das wohl der Moment, wo der JÖÖÖÖ-Alarm gedrückt wurde.
Er tat mir ein wenig leid, dieser schüchterne Mann. So ein graues Mäuschen, dass sich kaum zu lächeln getraut. Ich nahm mir vor, ihm wirklich stets ganz freundlich und mit einem Lächeln zu begegnen. Er hatte ja sonst niemanden, der arme Kerl.
Was ich ab da auch tat - und was Kunibert sichtlich Freude bereitete. Er wagte dann sogar mit der Zeit, mich beim Grüssen aus wachen Augen anzuschauen - und ab und zu sogar zu winken, war ich denn weiter weg.
Jahr 4: Es muss Oktober letzten Jahres gewesen sein - es war Abend, ich war noch schnell einkaufen, stehe mit dem Korb an der Kasse und hinter mir ... ER! Erfreut hab ich gegrüsst, er hat sich schier ein bisschen erschrocken - hatte seine Single-Portion Brot und etwas Salami in der Hand, war sichtlich überrascht, dass ich mich nicht nur auf Bahnsteigen und in Zügen aufhalte.
Die Situation hat ihn aber derart aus dem Gleichgewicht gebracht, dass ich es vorzog, meine sonstig sehr offene und kommunikative Art zu zügeln, ihn einfach nur anzulächeln.
Kaum hatte ich meine Sachen bezahlt, alles in die Tasche gepackt und machte Anstalten zu gehen, zupfte mich jemand ganz schüchtern an der Jacke. Ich drehte mich um. "Hallo". Er stand vor mir und sagte einfach "Hallo". Ich - um etwas Lockerheit in das Gespräch zu bringen: "Hallo - schön, Sie mal ausserhalb des Bahnhofes zu sehen". Er: "Ja". PAUSE. Weil ich ihn mit dieser Ansprache wohl total verschüchtert hatte, dachte ich, dass es besser ist, den Dialog - wollte man es so nennen - zu beenden. "Ich muss dann mal, der Zug fährt gleich. Wünsche Ihnen noch einen schönen Abend - und Tschüüüüüss". Da hatte ich aber nicht mit seinem Mute gerechnet. Er zupfte wieder an meiner Jacke, stellte Brot und Salami hin, räusperte sich, zog die Kleider glatt, nestelte verlegen an seiner Jacke und stand ganz gerade vor mich hin: "Ich heisse Kunibert, Kunibert Schneider, bin 36 Jahre alt, arbeite bei Müller und Co. als Betriebsmechaniker und helfe bei der freiwilligen Feuerwehr aus". Boahhh. Nun war ich aber platt. Der Mann konnte in ganzen Sätzen sprechen! Darauf habe ich mich ihm dann auch vorgestellt, mit Name, Alter, Tätigkeit und Arbeitsort.
Kunibert war so richtig im Lauf - da hatte er es nun wirklich geschafft, ein Gespräch auf die Beine zu stellen. Not bad. Ich rechnete ihm dies auch hoch an.
Als er mir zum Tschüss sagen seine patschnasse, zittrige Hand reichte, gab ich mir sehr Mühe, ihm das gute Gefühl mitzugeben, dass er es richtig gemacht hatte. Das muss er wohl auch so verstanden haben, denn in der Woche darauf fragte er mich, ob wir mal zusammen nach Feierabend einen Kaffee trinken gehen könnten.
Ja klar - das lag bei mir drin. Und damit auch keine Komplikationen entstehen konnten, wollte ich ihm dann auch gleich sagen, dass ich in festen Händen sei und heiraten wolle. Geklärte Fronten - soviel ist man dem Anderen schuldig.
Im Vorfeld hab ich den "Kunibert-Fall" mit meinen Arbeitskollegen und anderen Freunden besprochen. Alle waren wir einhellig der Meinung, dass es eigentlich bitter ist für so einen Mann ... nur weil er zurückhaltend, scheu, gehemmt und kein Grossmaul war, kriegt der keine Frau ab. Und andere Dumpfbacken mit nix dahinter ausser Unverfrorenheit, haben da weniger Mühe.
Dabei ist Kunibert ein so Anständiger - und eben kein Blender.
Er tat uns Allen irgendwie leid und ich beschloss, ihn unter meine Fittiche zu nehmen, ihm ein bisschen Starthilfe zu geben.
Da war der Tag also nun gekommen, wir hatten uns verabredet und ich war sehr gespannt. Schon von weitem sah ich, dass Kunibert an einem Tischchen in der Ecke hinten sass, sofort aufschoss als ich auf ihn zuschritt. Mit knallrotem Kopf hat er mir den Stuhl gerückt, mich nach meinen Kaffeewünschen gefragt und für mich bestellt. Aber hallo! Dementsprechend gab ich ihm auch meine positive Resonanz: "Du bist ja richtig galant - danke!"
Er lächelte scheu dazu.
Den Gesprächsanfang machte ich, um dem ganzen Treffen ein wenig Leichtigkeit zu geben. Ich plauderte ein bisschen allgemein, stellte ein paar unverfängliche Fragen. Bei dieser Gelegenheit erzählte ich ihm auch von meiner Fernbeziehung.
Er antwortete artig, seine Nervosität hatte sich ein bisschen gelockert und das Gespräch begann zu fliessen.
Und wie .... es waren keine 10 Minuten vergangen, da schaute mir Kunibert tief in die Augen und sagte - gar nicht mehr scheu - "hör mal, allzuviel Zeit habe ich hier jetzt nicht. Es ist so, dass ich seit 10 Jahren verheiratet bin, 2 Kinder habe und meine Frau zu Hause einfach nur verklemmt, prüde und eine graue Maus ist. So fröhlich und bunt wie Dein Erscheinungsbild ist, so empfinde ich auch Dein Wesen und ich könnte mir vorstellen, dass wir zwei ziemlich viel Spass zusammen haben könnten. In der Woche hast Du ja auch reichlich Zeit - wäre das ok für Dich?".
Seine Wortwahl war einen Tick direkter als das, was ich hier dem Sinne entsprechend wiedergebe....
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
Es war das erste Mal, dass ich einen Kaffee nicht ausgetrunken habe.
Und ich arbeite seither hart an meiner Fähigkeit der Menschenkenntnis.
2 Kommentare:
Wie Man(n) sich doch teuschen kann... :O)
...aber wir arbeiten ja dran, gell Du. :-)
Ich bin ja lernfähig.
Bin ich?
:-))
Grüessli a Nova-Moonie vor
Sternenzauber
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