Es ist nie, nie ein gutes Zeichen, wenn unser Schönwetter-ICE 06.33h nicht von Perron 3, sondern von Perron 2 abfährt. Als die Anzeigetafel uns heute Morgen einen Perronwechsel anzeigte, meinte ich lapidar zu Schätzu: "... und wenn jetzt noch die Zugkompositionen verändert sind, dann hilft nur noch beten".
Ich hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, als Frau Bahnhofausruferin vermeldete: "Wir möchten die Reisenden des ICE nach Berlin via Bern, Basel darauf hinweisen, dass heute ausnahmsweise die 2. Klasse in Sektor C und D, die 1. Klasse in Sektor A und B zu finden ist". Prima - diese Ausnahme hatten wir gestern auch schon, inklusive Ausfall des Triebwagens, ergo Ersatzzug.
Allerdings hatten wir gestern das unverhoffte Glück, gut positioniert zu sein und als Erste einsteigen zu dürfen. Wir Beiden haben dann auch die letzten 2 Plätze in Beschlag genommen und gut war.
Diese Glückssträhne riss leider heute ab.
Als der ICE nämlich endlich bremste, war die linke Einsteigemöglichkeit ebensoweit entfernt wie die rechte. Das heisst übersetzt: Stehen bis Bern. Bitte nicht! Nicht um 06.33 am Morgen früh!
So haben wir uns dann halt der Polonaise angeschlossen, welche von Waggon zu Waggon tingelte um nach freien Plätzen Ausschau zu halten. Nach Wagen 3 wollte ich aufgeben, Katerli war aber nicht wirklich freudig gestimmt ob dieser neuerlichen In- und Umdisposition, so dass er glattweg auf einen Sitzplatz bestand.
Der Schaffner versteckte sich zwar in einer Ecke, Schätzu spürte ihn aber trotzdem auf und knurrte seine Frage nach Platz durch die Zähne mitten ins verschreckte Gesicht. "Weiter vorne müssten Sie eigentlich noch den einen oder anderen Platz finden..." kam als Antwort.
Latsch. Latsch. Latsch. Und siehe da: Wir kamen wahrlich zu Abteilen, welche noch Sitzgelegenheiten anzubieten hatten.
Aber - es war hier so still, so dunkel, so ungemütlich! Mich erinnerte es stark an Gruselkabinett.
Irgendwie morbid, diese Ausstrahlung. Die Menschen hingen still in Ihren Sitzen, Augen meist geschlossen, alle in Ihrer Aura weit über 90 Jahre alt - auch wenn sie teilweise bloss wie 30, 40 ausschauten ... erstaunlich. Hätte ich nicht das schier unsichtbare Heben des Brustkorbes bemerkt - ich hätte gewettet, dass es sich um einen Leichentransport handelt.
An jeder dieser Abteiltüren war ein grosses Piktogramm angebracht welches einen Kopf zeigt, einen Finger vor den Mund gedrückt und somit zum absoluten Stillschweigen verdonnert - und darauf stand zusätzlich: PSST! Abenso ein Piktogramm mit durchgestrichenem Handy.
Nicht zu vergessen 6 x an der Türe, gross geschrieben, RUHEABTEIL.
Mir war nicht wohl - aber die beiden freien Sitzplatz lächelten uns an und so traten wir denn ein, in das schweigende Dunkel. "Guten Morgen - ist da noch frei?". Erzürnte Blicke der drei ca. 35jährigen Greise. Augenrollendes Nicken und das Handzeichen sich jetzt endlich hinzusetzen und langsam zu sterben.
Weil der heutige Tag so voller Schnee und Kälte und Kälte ist, hatte ich meine Bärenfellmütze und die dicke Eisbärenjacke angezogen - das Angorafell-Halstuch und die naturwollenen Handschuhe dazu, zumindest hat sich meine Kleidung so angefühlt - denn in diesem lockeren Klima des angenehmen Miteinanders (HAHAHA!) habe ich mich nicht getraut, mich meiner Schutzkleidung zu entledigen.Es hätte zu nachhaltigen Irritationen geführt! Man stelle sich das vor!!
So sassen wir denn da und transpirierten leise vor uns hin. Schatz begutachtete im Scheine des Restlichtes aus dem Gang die Pendlerzeitung und erfrechte sich dann auch noch jeweils die Seiten zu wenden. Die pure Empörung ob dieses ungeheuren Lärmes wurde stumm über uns ausgeschüttet!
Ich atmete so flach es ging und wagte nur einmal kurz, Katerli liebevoll über den Arm zu streicheln. Diese Streichelbewegung meiner Hand schabte über seine Wildlederjacke und dröhnte in der Stille wie blöd. Ich zuckte selber zusammen.
In meiner Verzweiflung suchte ich den Blick meines Herzallerliebsten. Darauf achtend, möglichst die Augenlider nicht zu bewegen und im schlimmsten Falle dann mittels Wimpernschlag einen ungewollt exorbitanten Luftzug zu verursachen. Unsere Mitreisenden hätten das nicht goutiert. Geht ja gar nicht!
Endlich angekommen, sagte ich ohne lange zu überlegen: "Tschüss und einen schönen Tag noch". Hätten Blicke töten können - ihr hättet nie mehr von mir gelesen!
Die heutige Fahrt nach Bern erschien mir ob der Rahmenbedingungen unendlich lange. Und sie trug nicht gerade dazu bei, den Tag pfeiffend und gut gelaunt in Angriff zu nehmen. Meine persönliche Frustrationstoleranzgrenze ist wirklich in schwinderlerregender Höhe angesiedelt - und während andere schon längst am Rad drehen, bin ich die Ruhe selber.
Schlechte Laune ist mir ein Fremdwort.
Aber es bedurfte heute Morgen dann eines grosses Gipfelis inklusive Latte, das herzliche Lächeln meiner Lieblingsverkäuferin sowie das fröhliche Gewusel im Glatz-Beck, um mein inneres Gleichgewicht wieder zu finden.
Ich werde künftig den Waggon der lebenden Mumien weiträumig zu umgehen wissen. Lieber stehend das Leben geniessen. Ein Liedchen auf den Lippen und ein Lächeln im Gesicht.
CARPE DIEM
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